© 2000 IHHF / Jürgen Becker, Freiburg
Die praktische Durchführung
A. Die homöopathische Praxis
Seit inzwischen 200 Jahren wird nach dieser praktischen Anleitung verfahren. In dieser gesamten Zeit nimmt das Ausgangsmaterial der homöopathischen Arzneimittelprüfungen (2. Grundschritt) ständig zu und wird immer vollständiger. Durch die Praxis erfahren die Arzneimittelbilder immer wieder ihre Bewährung (6.). Jeder einzelne Fall einer durch Heilung bestätigten Ähnlichkeit (4.) zeigt wieder einen neuen Aspekt dieses Arzneimittels, der das Arzneimittelbild weiter vervollständigen kann. Besonders in der Behandlung chronisch Kranker zeigt sich, daß jeder Fall individuell betrachtet werden muß und immer wieder eine neue und einmalige, also individuelle Variante der Ähnlichkeit darstellt. Ein Grundsatz jeder Praxis lautet:
Man muß etwas tun, um zu sehen, wie es gemacht wird.
Wie sich Hahnemann sein Leben lang tastend und versuchend in die Potenzierung (1.), die Arzneimittelprüfung (2.), die Anamnese (3.), die ähnlichkeitsfindung (4.) die Dosierung (5.) und die Verlaufsbeobachtung (6.) hineingearbeitet hat, so geht es auch dem homöopathischen Praktiker heute. Stück für Stück gewinnt man Vertrauen in den therapeutischen Umgang mit potenzierten Arzneien. Jeder Homöopath entwickelt dabei seine besondere Stärke auf einem anderen Gebiet, je nach besonderer Begabung in der Wahrnehmung. Von jedem Homöopathen kann man etwas lernen.
Ich möchte hier Constantin Hering zitieren, einen der bedeutendsten Nachfolger Hahnemanns zu dessen Lebzeiten. Er schreibt 1833 in Meilenzeiger und Wegweiser zur Fortbildung der Homöopathik über seine Praxis, insbesondere über die homöopathische Anamnese (3.):
Ich verfuhr bei chronischen Kranken folgender Weise: Das Examen (Kranken-Examen = homöopathische Anamneseerhebung = 3. Grundschritt) wurde immer genau nach Hahnemanns Anweisung gemacht. Jedoch hieß das erste nur das ausholende; die Ausbeute desselben wurde zu Hause vorläufig geordnet, so daß dabei besonders alle Lücken bedacht wurden und spezielle Fragen über das Fehlende dazugeschrieben. Das zweite Examen, das vervollständigende, wurde angestellt in Bezug auf die bemerkten Lücken, war zuweilen sehr wichtig, zuweilen auch entbehrlich.
Dann wurden alle Symptome geordnet und zur Wahl geschnitten (4.). Alle Mittel (2.), oder doch fast alle (Repertorien gab es damals noch nicht) wurden in wichtigen Fällen verglichen (4.), ähnlich-scheinende wiederholt. Blieb die Wahl unentschieden zwischen zwei oder drei MitteIn, wie sehr oft, dann wurden diese nach ihren Unterschieden verglichen, und diese Unterschiede bemerkt. Ein drittes Examen, das entscheidende, wurde angestellt besonders in Bezug auf diese Unterschiede unter den nächstähnlichen Mitteln.
Dann erst wurde der wichtige Beschluß gefaßt (4.) und mit großer Hoffnung das kleine Küelchen oder Tröpfchen dem Pülverchen einverleibt (5.). Die nächsten Tage folgten dann die lauernden Examina (6.). Wollte es nicht bessern, so mußte das ganze Lied wieder vom ersten Verse an aufgesagt werden, und wir dachten immer, wir wären selber schuld. Sobald es aber zum Bessern sich anließ und solange es fortbesserte, waren wir sehr froh und taten es, wochenlang.
Wir hatten einstweilen vollauf zu tun wieder mit anderen Kranken (3. bis 6.). Zu solcher Arbeit muß man freilich tüchtig gerüstet sein, unermüdet bei Tag und Nacht, behend, immer bereit, was sich der Beobachtung darbietet, zu erlassen, zu sammeln, sich anzueignen, voll reinen, heiligen Eifers, gläubig und geduldig, und um auch anderen einen lebendigen Begriff zu geben von dem, was man getan und erfahren, mit feurigen Zungen reden und schreiben.
Das war die schöne Zeit der Unschuld! Das war die paradiesische Lust unserer Jugend. Wohl dem, der sie miterlebt hat. Selig waren wir, wenn uns nach solchen Anstrengungen die Kranken gesund wurden und freuten uns ganz übermenschlich und mehr noch als die Geheilten selber.
Hier läßt sich spüren, welche Kräfte eine solche homöopathische Tätigkeit freisetzen, wie sie einen voll und ganz erfüllen kann. Solchen Eifer und solche Begeisterung über das, was man dabei an echter Heilung miterleben kann, gibt es auch heute noch immer wieder. Und all dies nur mit Hilfe Hahnemanns einfacher praktischer Anleitung - und immer mehr und genauer dokumentierter Arzneimittelprüfungen! Ein ganz erstaunlicher, 200 Jahre lang immer wieder bestätigter Tatbestand!
Die Homöopathie besteht also im wesentlichen aus Beobachtungen und Erfahrungen, insbesondere in den Bereichen
HAMPAG (2.),
Anamneseerhebung beim Kranken (3.),
Ähnlichkeitsfindung durch den Homöopathen (4.)
und Verlaufsbeobachtung beider (6.).
Dabei baut sie auf den immer weiter tastenden praktischen Versuchen bei der Potenzierung (1.) und der Verordnungsweise (5.) auf.
B. Das Primat der Erfahrung vor jeder Theorie
Hahnemann hat großen Wert darauf gelegt, daß es in der Homöopathie hauptsächlich um die Erfahrung des Sachverhaltes geht und nicht um seine theoretische Erklärung. Er beginnt sein methodisches Hauptwerk, das Organon der Heilkunst, mit diesem Thema in
§1:
Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt.
Anm.1:
Nicht aber (womit so viele Ärzte bisher Kräfte und Zeit ruhmsüchtig verschwendeten) das Zusammenspinnen leerer Einfälle und Hypothesen über das innere Wesen des Lebensvorganges und der Krankheitsentstehungen im unsichtbaren Innern zu sogenannten Systemen, oder die unzähligen Erklärungsversuche über die Erscheinungen in Krankheiten und die, ihnen stets verborgen gebliebene, nächste Ursache derselben usw. in unverständliche Worte und einen Schwulst abstrakter Redensarten gehüllt, welche gelehrt klingen sollen, um den Unwissenden in Erstaunen zu setzen - während die kranke Welt vergebens nach Hilfe seufzte. Solcher gelehrter Schwärmereien (man nennt es theoretische Arzneikunst und hat sogar eigene Professuren dazu) haben wir nun gerade genug, und es wird hohe Zeit, daß, was sich Arzt nennt, endlich einmal aufhöre, die armen Menschen mit ihrem Geschwätz zu täuschen, und dagegen nun anfange, zu handeln, das ist, wirklich zu helfen und zu heilen.
Dazu muß man wissen, daß die Universitätsmedizin des beginnenden 19. Jahrhunderts von rein spekulativen Systemen nur so wimmelte, die jeglicher praktischer und faktischer Grundlage entbehrten und oftmals weitaus mehr schadeten als nutzten, wie z.B. der vielgebrauchte Aderlaß. Aber auch Hahnemanns Hang zur Polemik wird hier deutlich.
Andererseits kann aber auch Hahnemann selbst sich hypothetischer Erklärungsversuche nicht enthalten, z.B. in
§ 26 seines Organon:
Eine schwächere dynamische Affektion wird im lebenden Organismus von einer stärkeren dauerhaft ausgelöscht, wenn diese (der Art nach von ihr abweichend) jener sehr ähnlich in ihrer Äußerung ist.
Er erläutert dies in den folgenden Paragraphen:
§28:
Da dieses Naturheilgesetz sich in allen reinen Versuchen und allen echten Erfahrungen der Welt beurkundet, die Tatsache also besteht, so kommt (es) auf die scientifische Erklärung, wie dies zugehe, wenig an und ich setzte wenig Weit darauf, dergleichen zu versuchen. Doch bewährt sich folgende Ansicht als die wahrscheinlichste, da sie auf lauter Erfahrungs-Prämissen gründet.
§29:
Indem jede (nicht einzig der Chirurgie anheim fallende) Krankheit nur in einer besonderen, krankhaften, dynamischen Verstimmung unserer Lebenskraft (Lebensprinzips) in Gefühlen und Tätigkeiten besteht, so wird bei homöopathischer Heilung dieses, von natürlicher Krankheit dynamisch verstimmte Lebensprinzip durch Eingabe einer, genau nach Symptomen-Ähnlichkeit gewählten Arznei-Potenz von einer etwas stäkeren, ähnlichen, künstlichen Krankheitsaffektion ergriffen; es erlischt und entschwindet ihm (dem Lebensprinzip) dadurch das Gefühl der natürlichen (schwächeren) dynamischen Krankheits-Affektion, die von da an nicht mehr für das Lebensprinzip existiert, welches nun bloß von der stärkeren künstlichen Krankheits-Allektion beschäftigt und beherrscht wird, die aber bald ausgewirkt hat und den Kranken frei und genesen zurückläßt.
Die Anmerkung zu § 31 macht noch deutlicher, was Hahnemann damit meint:
Wenn ich Krankheit eine Stimmung oder Verstimmung des menschlichen Befindens nenne, so bin ich weit entfernt, dadurch einen hyperphysischen Aufschluß über die innere Natur der Krankheiten überhaupt oder eines einzelnen Krankheitsfalles insbesondere geben zu wollen. Es soll mit diesem Ausdruck nur angedeutet werden, was die Krankheiten erwiesenermaßen nicht sind und nicht sein können, nicht mechanische oder chemische Veränderungen der materiellen Körpersubstanz und nicht von einem materiellen Krankheits-Stoffe abhängig – sondern bloß geistartige, dynamische Verstimmungen des Lebens.
Es wird deutlich, womit Hahnemann hier ringt und kämpft: Es geht ihm um die Abgrenzung nach zwei Seiten hin, einmal gegenüber leeren Spekulationen, zum anderen gegenüber der materialistischen Auffassung des Körpers als Apparat, ob nun mechanisch oder chemisch gedacht. Hahnemann hat mehrere Jahrzehnte immer wieder beobachtet, daß die nicht-materielle Arzneipotenz sowohl in der Arzneimittelprüfung am Gesunden künstliche Krankheitszustände hervorrufen als auch beim Kranken - im Falle genügender Ähnlichkeit - heilen kann.
Somit liegt es auf der Hand, Krankheit als etwas nicht materiell Bedingtes aufzufassen. Sein Erklärungsversuch in § 29, den er durch ein Naturheilgesetz (§ 26) begründet, mutet uns heute eher unbeholfen an. Ich möchte seine Aussagen als Beschreibung der homöopathischen Erfahrung stehen lassen, daß selbst langwierige und schwere Krankheitszustände durch eine dynamische Verstärkung in Form einer ähnlich wirkenden potenzierten Arznei zur Heilung angeregt werden.
Ähnlich hat schon Hering, einer der Väter der Homöopathie, 1838 in Fingerzeig zur Beurteilung des Organon Hahnemanns theoretische Erklärungsversuche aufgefaßt:
Man hält mich allgemein für einen Schüler und Anhänger Hahnemanns, und ich erkläre, daß ich zu denen gehöre, die ihm am getreuesten anhängen und zu denen, die seiner Größe mit Begeisterung huldigen, aber dennoch erkläre ich auch, daß seit meiner ersten Bekanntschaft mit der Homöopathik (im Jahre 1821, mit 21 Jahren) bis auf den heutigen Tag ich noch niemals, auch keine einzige der Theorien im genommen habe, wie sie da Ich trage keine Scheu, dies vor dem ehrwürdigen Greise (dem zu der Zeit über 80jährigen Hahnemann) selbst zu bekennen. ...
Das ist der echte Hahnemannsche Geist, alle Theorien, selbst die eigenen, für nichts zu achten gegen die Ergebnisse reiner Erfahrung. Alle Theorien und Hypothesen haben keinen positiven Wert als nur den, daß sie auf neue Experimente führen und die Resultate früherer besser überschauen lassen.
Dieser Grundsatz gilt in der Homöopathie noch heute!
C. Zusammenfassung
Die Grundzüge der historischen Homöopathie lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen:
Die Homöopathie ist ein
von Hahnemann durch jahrzehntelanges Beobachten
und tastendes Experimentieren entwickeltes
praktisches Verfahren der angewandten Pharmakologie,
das in phänomenologischer Grundhaltung
genaue Beobachtungen an Kranken
wie auch in der Arzneimittelprüfung an Gesunden anstellt und ihnen
- im Falle einer genügenden Ähnlichkeit dieser beiden Zustandsbilder -
potenzierte Einzelmittel in geringer Dosierung verabreicht.
Die Wirkungen dieser Potenzen, insbesondere die Hochpotenzwirkungen, können in der Praxis und in naturwissenschaftlichen Untersuchungen zwar nachgewiesen werden, lassen sich bisher aber weder theoretisch befriedigend erklären noch technisch direkt messen. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich dabei um Kräfte handelt, die der Naturwissenschaft bisher vollkommen unbekannt sind. Es müßte sich um technisch-materiell nicht faßbare Kräfte handeln, die durch den Vorgang der Potenzierung aus der Materie freigesetzt werden. Sie lassen sich am ehesten als "feinstofflich" bezeichnen.
Aus: Jürgen Becker, Neue Welten der Homöopathie und der Kräfte des Lebens, Band I, S.37-41. IHHF,
Freiburg 2000